Feiste Winterstadt
Dezember 2019. Es liegt kein Schnee, weder in Spandau noch in Neukölln. Es ist dieser Berliner Winter in dem die tausende Male überfahrenen Straßen mit Verpackungsresten, Papier, Dreck im allgemeinen, Wasser, Öl und Feinstaub Jahr für Jahr hart komprimiert werden. Der Stadtverkehr ist unerbittlich und mächtig. Aus einem Kreuzberger Café heraus schaut sich das Treiben gemütlicher an. Aber selbst nach dem Gespräch und der Vereinbarung, die ich dort mit Drummer David Guy traf, musste ich irgendwann raus in die Blutschläuche der Stadt.
Ein paar Tage später dann Weihnachten; ich verbrachte das bei meinen Eltern. Zwischen den Ritualen immer musste ich noch die letzten Details zur Vorbereitung für die nächsten Tage schleifen. Noten aktualisieren, Pilotspuren angleichen. Zurück in Berlin. Die Nachrichten flogen wie üblich hinein und in Europa war noch nicht viel anders als sonst. Oder besser: Als bisher? Ja, über China kamen die ersten Nachrichten über etwas seltsames und ansteckendes. Das aber ist alles Rückschau und wir könnten kaum darüber wissen, würde es nicht ein weltumspannendes Ereignis geworden sein. Du hältst nicht auf, was du nicht halten kannst.
Songs zwischen den Jahren
Ein paar Tage um den Jahreswechsel nach 2020 standen die Drumrecordings für ein paar Songs an, die ich damals nur „neue und alte“ nannte. Wie sich danach alles entwickelte, das denkt sich nur die Reise der Menschheit aus. ‚Songs zwischen den Jahren‘ war so ein Projektname, der die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr ansprach. Am Ende steht er für eine große Metapher.
David stimmte zu, — ich bin noch immer so dankbar dafür — den Recordingtag im Studio 6:30 Uhr beginnen zu lassen. Wir waren sicher, dass das ein Experiment für beide von uns war aber in allem gut für ungestörtes Arbeiten.
Vielleicht noch müde, aber ausgeschlafen, hangelten wir uns wie im Dschungel durch die Songs. Diese seltsame Morgenstille: Ende Dezember ist das Drama der kurzen Tage bereits ein paar Mal ausgeatmet, verglimmt und raucht nur noch. Bis man jedoch gegen April oder Mai wirkliche Veränderung erleben kann, so man nicht ganz direkt mit dem Sonnenlicht durch den Tag geht, waren die Tage und die Entscheidung, am Morgen zu starten, aber trotzdem spöttisch für mich: Das dunkle Zeitalter!
Ich hatte für mich abgelehnt, Songs gemeinsam mit David zu jammen und im Studio so zu entwickeln, wollte eigentlich nur die Rolle am Aufnahmeplatz einnehmen und mich auf Davids Schlagzeugspiel konzentrieren. Aber nach Zeiten des Aufnehmens, Sitzens, Besprechen und wieder neu ansetzen, hat auch dieser Plan Grünspan angesetzt und brauchte bei einigen Songs Abwechslung von sich selbst. Es ist angenehm, so ein Zeichen von Vitalität zu bekommen. Gute Leute merken, wenn es wo hakt und man wo ‚reingehen muss.
Im neuen Jahr waren die Drums fertig, zu den provisorisch gesetzten restlichen Instrumenten. Einige der Ideen hatte ich vor Jahren einmal skizziert, als die Weite Europas noch nicht von kulturkapitalistischen Firmen vermessen und verkauft wurde. Schritte über den Kontinent konnte man ihrerzeit gehen, die natürlich genauso dreckig über die Autobahnen und Flugrouten verliefen wie heute seit jeher. Man musste nur bemessen, ob ein ‚Schritt‘ ein sechs-Stunden-Flug ist oder eine Radreise um die eigene Schmutzbilanz zu rechnen. Aber alles das – die Kontinentalreisen, Besuche, Touren durch die Union, das hatte alles weniger Patina als heute. Ein Vorwegweiser nach Amsterdam hatte keine ‚Kultur‘ des kommentiert-werdens. Hatte keine nachträglich konstruierte Bedeutung, die man durch Klicks induziert. Und die durch Tiefenverschachtellung in einem Dateisystem ewig Aufwand herstellt; der für die Erhaltung der Bedeutung immer Strom und Material braucht. Und dort, in diesem entschwundenen Europa entsprangen einige Ideen der nun jetzt überwiegend ruhig scheinenden Zeiten der mittleren und späten 2000er Jahre, wenigstens bis 2013. Doch was da von jetzt besehen als ruhig und still gelten möge, das täuscht ganz ideenreich wenn ich mich an ein paar Erlebnisse von früher erinnere.
Ein junger Steve McQueen
Brisbane, 2010. An der Wand im Keller stand ein Regal mit kleinen Fläschchen, überall verschiedenfarbiges Material drin. Todd zeigte mir stolz einige Exemplare und las die Namen vor. Von fast allen Orten hatte ich noch nie gehört. Er konnte zu jedem Fläschchen etwas sagen. Auf drei Weltreisen hatte Todd diese Sammlung angelegt. Von unzähligen Stränden aller Kontinente sammelte er: Sand! Nun zählte er Mitte 40, war in einem Haus nördlich von Brisbane — und auch ganz in der Nähe seiner Heimat — im Familienleben angekommen. Wenn du mit deiner Frau auf eine Weltreise gehst, zwei weitere vorher allein gemacht hast: Wie viel Arbeit braucht es, in einem Haus mit kleinen Kindern gemeinsam auszukommen? Todd hatte schon deswegen viel erlebt, weil selbst Ende 2010 — da war ich in Neuseeland und Australien — die Erzählung seiner ersten Weltreise Ende der Achtzigerjahre waghalsig klang. Telefonzelle, Katalog, Zeitung. Wie fühlte sich wohl am Ende eines Zeitalters die Ungewissheit an, Stück für Stück so eine Reise zu entwickeln? Du konntest wohl nicht viel wissen, nur annehmen. Wie buchst du ein Hotel? Woher weißt du… irgendetwas? Ja, klar ist schon, dass die Frage nach einer Hotelbuchung nicht wörtlich gemeint sein kann. Eher die Unwissenheit, die interessante Mischung aus, rückblickend gesehen, starrer Struktur in den Dingen Ende der Achtziger und der Offenheit der Entdeckungen durch Fehlen des Internets. Die Weltbevölkerung 2022 hat einige Meilensteine hinter sich gebracht, hinter die sie nie zurückkehren kann, ohne utopische Annahmen über die Art derselbigen Versuche zu machen.
Ich lauschte Todds Erinnerungen und er war so hart an der Sache, er wäre wohl gleich wieder losgezogen. In San Fran war er dann in einer fast ruinösen Hotelkaschemme untergekommen, rammlige Türen, viel kaputt. Es war wohl eher eine Hausbesetzung. Das Gebäude ohne Personal, augenscheinlich. Klar waren die Verhältnisse nicht. Er schlief in einigen Schichten Sachen auf einer Matratze und fragte nicht nach der Geschichte dieses Bettes. Am nächsten Morgen kramte er seinen Armeerucksack zum Aufbruch zusammen, schaute hier und dort am Bett nach. Nichts vergessen oder interessantes suchen? So da. Es lag in dem ganzen Kram dieser Bruchbude ein Schwarz-Weiß-Foto. Eine Maschine, darauf saß ein ziemlich junger Steve McQueen. Das Foto war kaum promo-tauglich. Es zeigte eine jugendliche Energie, Unverbrauchtheit und Stolz. Todd vermutete, das Foto wäre privat. Mir schien es ebenfalls nicht als ‚in Bedrängnis‘, etwa von Paparazzi, aufgenommen. Zu nah, zu persönlich. Und wie das Foto in ein ramschiges Loch in San Fran kam, das bleibt wohl ewig verborgen.
Als Todd mir das Foto im Sandflaschen-Keller zeigte, war mir 2010 und meine Reise ans andere Ende der Welt schon viel zu bequem. Ich prägte mir das Foto ein und mit ihm kam, als blinder Passagier, das Gefühl ‚Todd-San-Fran-Foto’. Zentraleuropa in den 2000er Jahren bis hinein in die Hälfte der zweiten Dekade fühlte sich mit meinen Songideen von da schon wirklich bequem und aufwandslos an im Vergleich zum Mitt-Vierziger in Queensland und seinen leuchtenden End-80er-Augen. Die Reise der Menschheit.
Griffbrett und Patina
Zwischen den Jahren war schnell um, so ging es in den Februar 2020 und während ich Gitarren aufnahm, trieb ich mit den Ereignissen in den ersten Großschnitt unserer Zeit. Dachte ich noch an eine ‚Normalisierung‘ gegen Sommer, ja sogar Mai! — Ging dort die Rutschfahrt der Gesellschaften in die erste Kurve. Viele Arbeiten am Sound der Songs bekamen einen seltsamen ‚Irgendwohin!‘-Charakter für mich. Denn die Welt draußen war außer Fugen. Diese grau-gelb leuchtende Lähmung im Frühjahr 2020, dieser Halt!-Druck auf die Stopp-Taste der Dialektik. Von Menschen unmöglich anzustellen und nur zufällig zu bekommen. Das zeigte Spuren. Wenn man sich auf ‚wehen lassen‘ Stücke wie ‚Erbwohlstand‘ und ‚Fliederblau‘ genauer anhört, ziehen die Arrangements nach den wichtigen Teilen davon, lassen sich gehen und sitzen aber immer noch im Kern ihrer Idee. Es waren so solche Impulse, die den Stücken einen Bodenstand geben wollten, sie gar dazu zwangen. Sie bleiben bei sich, wo sie auch offen klingen. Aber bei allem Antrieb — Wohin?
Im Oktober 2020 hatte ich die letzten Spuren aufgenommen. Ich war dann erst einmal ‚fertig‘ und mit ein paar anderen Ideen, die sich auf dem Album ‚Personal Private Bedroom‘ später versammelten, hatte ich mit den ‚Europa-Stücken‘, die jetzt ‚wehen lassen‘ geworden sind, einen guten Kontrast. Allein: Es war ein dumpfes ‚Passt-nicht‘ Gefühl das ich im Hinblick auf eine Veröffentlichung hatte und das von einer sich rasch verändernden Welt dieser Jahre ausging. Wir konnten die unterschiedlichen Herangehensweisen der Länder in Sachen Pandemie halbwegs beobachten und meine Songs gewannen unterdessen an neuer Patina. Unveröffentlicht und durch die Veränderung der Zeit mitgerissen — Alle paar Monate erschienen sie mir in einem neuen Licht. Alt? Aktuell? Sinnlos? Euro-Nostalgisch? Sind die Statements von ‚Hihihierarchie‘ nun luxuriöse Jammerei oder ein Argument mehr denn je falls wir mal durch Londons Nobelviertel spazieren? Und hatten bestimmte Leute in Zeiten unmöglichen Einkommens etwas wie den Song – nicht die wörtliche Titelbedeutung: ‚Erbwohlstand‘ schändlich verdient?
Perzeption ohne Illusion
Nun sind zwei Jahre seit ‚fertig‘ vergangen und einige Rücksetzungen was den Klang des Albums angeht. Wo früher noch glatteres Pop-Bliss irgendwo in den Songs, aus den Songs, kommen sollte; ich war angetan davon, so gingen sie durch einige Entwicklungen in ihrem klanglichen Anstrich. Was nun aus der Anlage kommt ist offen, kantig, ungeschliffen. Nicht geschönt, einfach belassen. Wenigstens aufgeräumt. Alben und Musik sollen laut, ballernd und derb sein. Prozessiert, zerdrückt und wie Essen, das zu viel Bearbeitung erhalten hat: Ungesund. Mach’ den Song an und werde hoffentlich erschlagen! Seit den 2000er Jahren geht das nun so. Fünf Minuten zu viel Laut! ist: Langweilig. Ist: Ermüdend. Die Zeit dockt ohne viel Zucker eher an.
So ist „wehen lassen“ ein Album, bei dem man die Anlage laut aufdrehen muss um das Erlebnis zu bekommen. Das man aber auch laut hören kann, ohne zu ermüden. Dann gewinnen die Songs durch ihre Offenheit und Tragfähigkeit. Dort ist wenig künstlich aufgebohrt, hochgeschraubt und verschönert. Wer sich auf diese Ehrlichkeit und die Patina der Jahre einlässt, hat hier viel zu entdecken. Von jazz-beeinflussten Wegen in ‚Fliederblau‘, über die Album-Tempo entspannenden Instrumentals und einem gewissen Schnitt: ‚wehen lassen‘ ist mein viertes Werk als Songwriter. Bis dahin bin ich einen Weg gegangen, für den Europa und seine in Teilen auszumachende Verfasstheit bis 2020 eine entscheidende Rolle gespielt hat. Es sind Stücke, die Emergenz herstellen, die mit ihrem Sound und Text so viele kleine Dinge summieren und nun zusammengefasst in eine Einheit bringen.
‚wehen lassen‘, darauf sind so viele leuchtende und elegisch tolle Momente für mich, weil sie ohne Übertreibung ansprechen und zum Mitkommen anregen. Weil sie so weit klingen. Dann, wenn es nach dem zweiten Chorus von ‚Erbwohlstand‘ in feine Erhabenheit fliegt, wenn sich das Instrumental in ‚Oben‘ von den Dächern der Plattenbauten in die Lüfte hebt. Viele dieser Momente sind auf dem Album zu finden. Die Eleganz unverkaufter Zeit.
Das Große Europäischer Zeit.
Halten wir daran fest!
– Maik
‚wehen lassen‘
ist am 6. Dezember 2022 erschienen